Peinlich
„Ibiza, Sommer, Sonnenschein, Urlaub, faulenzen und so richtig relaxen.“ Mit diesen Gedanken macht sich die hübsche, blondgelockte, zwanzigjährige Susanne früh morgens, einen Koffer in der Hand, auf den Weg zum Flughafen. Sie schmunzelt vor sich hin und rechnet: „Eine Stunde Aufenthalt in der Abflughalle, eineinhalb Stunden Flug, danach noch dreißig Minuten Bustransfer zum Hotel, also in genau drei Stunden kann ich den Alltag total vergessen, abschalten, jede Minute genießen und alle Viere von mir strecken.“
Wie gedacht, so auch geschehen. Susanne ist im vier Sterne Hotel auf Ibiza angekommen. Der Reisekoffer wird ausgepackt, die Wäsche fein säuberlich in den Schrank gelegt, Klamotten ausgezogen und auf´s Bett geschmissen, kurz geduscht, Bikini angezogen, Badehandtuch um die Hüften geknotet und ohne Umschweife auf das, im Katalog so reizvoll angepriesene Sonnendach, stolziert.
Susanne traut ihren Augen kaum, keine Menschenseele hat sich hier auf dieser schönen, in luftiger Höhe angelegten Rasenfläche, niedergelassen. „Um so besser“, denkt sie, streift ihren winzigen Zweiteiler ab, legt sich auf eine große blaue, mitten zwischen der Gras und Blumenwelt befindlichen, Glasplatte, um nicht von Ameisen oder anderem kleinen Getier gestört zu werden, schiebt sich das Handtuch gefaltet unter den Kopf und lässt sich die Sonne auf den Rücken scheinen.
Plötzlich hört sie Schritte. Blitzschnell bedeckt sie ihre Rückseite mit dem Badehandtuch. Ein Hotelboy nähert sich, meint stotternd aber sehr höflich: „Entschuldigen sie, gnädiges Fräulein, unsere Direktion hat nichts dagegen, wenn sie sich hier oben auf dem Dach sonnen, würde es aber begrüßen, wenn sie sich mit einem Badeanzug oder Bikini bekleiden würden.“
„Wer kann mich denn hier schon sehen“, entgegnet die flotte Blondine kess, „und außerdem bin ich doch mit einem Handtuch bedeckt.“
„Richtig“, sagt der Hotelboy verlegen und senkt seinen Kopf, „sie liegen aber auf dem blauen Spiegeldach vom Lichtschacht, der genau über dem Speisesaal befindet.“ Bevor er sich mit einem freundlichen Diener verabschiedet, fügt er noch mit einem verschmitztem Lächeln hinzu: „Durch dieses blaue Glas kann man nur von innen nach außen schauen.“
© Horst Rehmann