Der konnte fahren
An einem kühlen, regnerischen Wintertagtag betrat ein sportlicher, mit einem Anorak gekleideter junger Mann ein Lokal. Mit einem Gesicht, als wäre ihm eine Laus über die Leber gelaufen, nahm er an einem Seitentisch neben einem Kanin platz und rief: "Herr Wirt, einen Korn und ein Bier bitte, - ptwui, ptwui - der konnte fahren!"
Ohne weiter von den seltsamen Lauten Notiz zu nehmen, schenkte der Wirt ein und servierte. Geradezu gierig schnappte der junge Mann den Korn, dann das Glas Bier und kippte beides auf "ex" hinunter. Sofort nachdem die Gläser wieder auf dem Tisch standen, rief er erneut: "Noch einmal dasselbe - ptwui, ptwui - der konnte fahren!"
Jetzt wurde der Wirt ein wenig stutzig und als er servierte sagte er leise: "Zum Wohle, mein Herr, aber unterlassen Sie bitte das Spucken, Sie befinden sich hier in einem Lokal und nicht auf der Straße!"
Der junge Mann überhörte die Worte, er sah nur das köstliche Nass vor sich stehen, langte zu, kippte wieder auf "ex" beides hinunter und rief ein drittes Mal: "Herr Wirt, einen Korn und ein Bier bitte, - ptwui, ptwui - der konnte fahren!"
Das geht zu weit, sagte sich der Wirt, servierte auch die dritte "Lage" und knurrte unterdrückt: "Mein Herr, ich sage es Ihnen in aller Ruhe, aber auch gleichzeitig zum LETZTEN MAL, unterlassen Sie das Spucken! Sie sitzen hier in einem sauberen Restaurant, also bitte, benehmen Sie sich entsprechend!" Noch leiser, damit keiner der anwesenden Gäste etwas mithören konnte, fügte er hinzu: "Weswegen sagen Sie eigentlich ständig "Der konnte fahren" und spucken dabei auf den Boden? Sind Sie etwa krank?"
"Nein, nein", sagte der junge Mann und schüttelte den Kopf, "nein, ich bin nicht krank, ich hatte nur ein grausiges Erlebnis - wenn Sie einen Augenbick Zeit haben, erzähle ich Ihnen die Geschichte."
Der Wirt nickte, setzte sich und spitzte die Ohren.
"Also", begann der junge Mann, "ich stand heute früh, weil ich meine Geldbörse verloren hatte, bei dieser eisigen Kälte, im Regen an der Bundesstraße und versuchte, per Anhalter hierher, in meinen Heimatort, zu gelangen. Zehn, fünfzehn Autos rasten an mir vorbei, doch dann hielt ein schnittiger Sportzweisitzer. Der Fahrer, ein älterer Herr, so um die siebzig, kurbelte die Scheibe herunter und sagte: "Ich habe hier auf dem Sitz neben mir ein kleines Fass mit Salzheringen stehen, wenn Sie daneben Platz nehmen wollen, dann steigen Sie ein." "Natürlich stieg ich ein, ich war ja froh im Trockenen zu sein und wegzukommen. Dann ging`s los, und ich sage Ihnen, der Fahrer drückte ganz schön auf´s Gas. Mit hundert Sachen, die Scheiben verschmiert, überholte er jedes Fahrzeug und dann, gleich hinter einer Kurve ging er einen Lastwagen mit Hänger an und als wir halb daran vorbei waren, tauchte vor uns urplötzlich ein Sattelschlepper auf. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, meine Augen starrten nur noch den Fahrer an - und verzweifelt schrie ich: Bester Mann, wenn Sie da noch durchkommen, ohne das etwas passiert, esse ich das halbe Fass Salzheringe leer..."
Der junge Mann legte eine Pause ein, holte tief Luft und meinte dann, noch immer übel dreinschauend: "Ja, Herr Wirt - ptwui, ptwui - der konnte fahren ! Bitte, noch eine "Lage"..."
© Horst Rehmann