Listiger alter Hahn
Riesiges Durcheinander im Hühnerhof, sämtliche Hennen gackern und flattern durcheinander. Der Landwirt und leidenschaftliche Hühnerhalter, Heinrich Warnicke, hat einen neuen, kräftigen, hübschen, bunten, jungen Hahn gekauft und ihn soeben in das, mit hohem Maschendraht versehene Gehege gesetzt. Um die weiteren Geschehnisse genau in Augenschein zu nehmen, bleibt Wernicke vor der Umzäunung stehen, beobachtet jeden Schritt des Neuzugangs.
Erhobenen Hauptes, den Kamm aufrecht gestellt, schreitet der stolze Hahn zu seiner, jetzt ihm gehörenden Damenwelt, den schönen, anmutig tänzelnden Hennen, kräht einige Male kräftig, um seine Herrschaft anzukündigen und geht dann schnurstracks auf den alten Hahn, der den Vorgang aus angemessener Entfernung verfolgt hat, mit schlagenden Flügeln zu.
Normalerweise kommt es in solch einer Situation zu der üblichen Auseinandersetzung, zum Hahnenkampf. Doch weit gefehlt. Der alte Hahn bleibt wie angewurzelt stehen, hebt den Kopf und sagt freundlich: "Ich bin froh und überglücklich, dass du gekommen bist, mir wird das tägliche, hinter den Hennen her rennen zu viel, ich werde allmählich zu alt für diese Sport und Kraftakte." Er legt eine kleine Pause ein, senkt den Schnabel bis fast zum Boden, spricht dann aber ruhig und besonnen weiter: "Nur eine einzige Bitte hätte ich an dich: Unter den vielen Hennen sind mir einige, genauer gesagt, fünf Stück, sehr ans Herz gewachsen. Sei doch so lieb und überlasse sie mir für meine alten Tage. Für dich bleiben schließlich noch mehr als genug übrig."
"Das kommt überhaupt nicht in Frage. Der neue Herr hier im Gehege bin ich, ich ganz allein - und handeln lasse ich mit mir schon gar nicht", antwortet kess und sehr ernst der von oben herabschauende junge Hahn.
Der Alte überlegt, blickt den Neuen vom Kamm bis zu den Krallen an und meint: "Ich mache dir einen Vorschlag zur Güte. Wir laufen einmal den ganzen rechten Zaun entlang und wieder bis hierher zurück, das sind gute einhundert Meter, wenn du gewinnst, verzichte ich auf alles was ich dir vorgeschlagen habe, selbst auf meine alten Rechte."
Noch bevor ein Einverständnis kommt, rennt der alte Hahn los, vom erzürnten, aber durchaus siegessicheren Neuen sofort verfolgt.
Bauer Warnicke beobachtet immer noch sein Federvieh, sieht plötzlich die Hähne hintereinander her rennen. Im Laufschritt verschwindet er im Wohnhaus und steht wenige Augenblicke mit einem Gewehr im Anschlag wieder am Zaun. Der Landwirt zielt, drückt ab. Der neue Hahn ist tot.
Wütend reißt sich Heinrich Warnicke die Mütze vom Kopf, wirft sie auf die Erde, trampelt kräftig darauf herum und brüllt vor sich hin: "Verdammt noch mal, ich kann es nicht glauben, das war jetzt schon der vierte homosexuelle Hahn, den ich in diesem Monat gekauft habe!"
© Horst Rehmann